2. Emigrationsfusion

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Von einer in Art. 163b IPRG geregelten Emigrationsfusion wird gesprochen, wenn sich eine schweizerische Gesellschaft mit einer ausländischen zu einer neu gegründeten ausländischen Gesellschaft zusammenschliesst (Emigrationskombination) oder von einer ausländischen Gesellschaft übernommen wird (Emigrationsabsorption). Art. 163b Abs. 1 IPRG nennt zwei bei der Durchführung einer Emigrationsfusion zwingend zu beachtende Grundvoraussetzungen: Einerseits müssen sämtliche Aktiven und Passiven der übertragenden schweizerischen Gesellschaft auf die übernehmende ausländische Gesellschaft übergehen, andererseits bedarf es einer angemessenen Wahrung der Anteils- oder Mitgliedschaftsrechte in der ausländischen Gesellschaft.

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Die schweizerische Gesellschaft muss ferner alle für eine übertragende Gesellschaft nach schweizerischem Recht geltenden Vorschriften erfüllen (Art. 163b Abs. 2 IPRG). Die Gläubiger sind öffentlich zur Anmeldung ihrer Ansprüche aufzufordern (Art. 163b Abs. 3 IPRG). Auf das anwendbare Recht mit Blick auf die Gesellschafter, Gläubiger und Arbeitnehmer wird nachfolgend genauer eingegangen. Im Übrigen kommt auf die Fusion das Recht der übernehmenden, ausländischen Gesellschaft zur Anwendung (Art. 163b Abs. 4 IPRG). Damit wird – wie in Art. 154 IPRG – primär auf das Recht am Inkorporationsort der übernehmenden Gesellschaft und subsidiär auf das Recht am Ort derer tatsächlicher Verwaltung verwiesen. Es handelt sich dabei um eine Verweisung auf die Kollisionsnormen (und nicht direkt auf die Sachnormen) des Inkorporationsorts. Damit sind allfällige Weiter- oder Rückverweisungen auf ein anderes Recht zu berücksichtigen, wodurch hinkende Rechtsverhältnisse vermieden werden sollen.2090

2.1 Gesellschafter
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Art. 163b IPRG enthält Vorschriften zum Schutz von Mitgliedern und Anteilseignern der übertragenden schweizerischen Gesellschaft. Art. 163b Abs. 1 lit. b IPRG verlangt eine angemessene Wahrung der Anteils- und Mitgliedschaftsrechte in der übernehmenden Gesellschaft.2091 Die Anteils- und Mitgliedschaftsrechte sind in äquivalenter Form unter Berücksichtigung des Statuts der ausländischen Gesellschaft zu wahren.2092 Der Nachweis der Angemessenheit hat sich grundsätzlich an den Regeln von Art. 7 f. FusG zu orientieren.2093 Die Verweisung von Art. 163b Abs. 2 IPRG hat zur Folge, dass im Falle einer Emigrationsfusion alle Bestimmungen des Fusionsgesetzes über den Schutz von Anteilseignern und Mitgliedern einer übertragenden schweizerischen Gesellschaft zu berücksichtigen sind.2094 Die Gesellschafter der übertragenden Einheit werden dadurch insbesondere durch die Notwendigkeit der Erstellung und Prüfung eines Fusionsberichts2095, das Einsichtsrecht2096 und die erfor­der­lichen Quoren zur Genehmigung des Fusionsvertrags2097 geschützt. Die Bei­behaltung des bisherigen Gesellschaftsstatuts ist kein wohlerworbenes Recht der Gesellschafter, sodass hinsichtlich des Fusionsbeschlusses gemäss schweizerischem Recht keine Einstimmigkeit erforderlich ist. Der Fusionsbeschluss der übertragenden schweizerischen Gesellschaft kann daher auch bei einer Emigrationsfusion mit den Quoren nach Art. 18 FusG gefällt werden.

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Art. 164 Abs. 2 lit. b IPRG bestimmt zudem, dass die schweizerische Gesellschaft nach erfolgter Emigrationsfusion erst aus dem schweizerischen Handelsregister gelöscht werden darf, nachdem ein zugelassener Revisionsexperte bestätigt hat, dass die Anteils- oder Mitgliedschaftsrechte der Gesellschafter der schweizerischen Gesellschaft vereinbarungsgemäss eingeräumt und/oder eine allfällige Ausgleichszahlung geleistet worden ist. Hinsichtlich einer ausschliesslichen Barabfindung ist daran zu erinnern, dass ein diesbezüglicher Fusions­beschluss seitens der schweizerischen Gesellschaft gemäss Art. 18 Abs. 5 FusG nur mit einer Mehrheit von 90 % der Stimmen gefasst werden kann.2098

2.2 Gläubiger
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Die Gläubiger der übertragenden schweizerischen Gesellschaft müssen gemäss Art. 163b Abs. 3 IPRG unter Hinweis auf die bevorstehende Fusion in der Schweiz öffentlich zur Anmeldung ihrer Ansprüche aufgefordert werden (Schuldenruf). Die Sicherstellung der angemeldeten Forderungen erfolgt sodann nach Art. 46 FusG. Gemäss dieser Bestimmung müssen solche Forderungen sichergestellt werden, wenn die Gläubiger dies innerhalb von zwei Monaten seit dem Schuldenruf verlangen. Die Pflicht zur Sicherstellung entfällt bei Erfüllung der Forderung oder bei Erbringung des Nachweises, dass die Er­­füllung der Forderung durch die Emigrationsfusion nicht gefährdet wird.2099

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Die Besonderheit des Verweises auf das Sicherstellungsregime der Spaltung bei der Emigrationsfusion liegt darin, dass gegenüber einer reinen Binnenfusion das Sicherstellungsverfahren zeitlich vorgezogen wird. Nach dem für die Fusion im Binnenverhältnis anwendbaren Art. 25 FusG könnte eine allfällige Sicherstellung der Forderungen erst innerhalb der drei ersten Monate nach Rechtswirksamkeit der Fusion beantragt werden.

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Der Wortlaut von Art. 163b Abs. 3 IPRG enthält keinen Verweis auf Art. 43 FusG, wonach die Gesellschafter über die Transaktion (in Art. 43 FusG die Spaltung) erst nach Abschluss des Sicherstellungsverfahrens beschliessen können. Art. 163b Abs. 3 IPRG verlangt auch nicht ausdrücklich, dass eine Sicherstellung vor Eintragung des Fusionsbeschlusses erfolgt sein muss. Demzufolge könnte die Emigrationsfusion bereits beschlossen und eingetragen werden, sobald der Schuldenruf erfolgt ist, auch wenn das Sicherstellungsverfahren noch nicht abgeschlossen ist. Damit würde sich die Situation der Gläubiger bei einer Emigrationsfusion nicht wesentlich von jener bei einer Binnenfusion unterscheiden.2100 Eine solche Auslegung würde aber dem Sinn und Zweck der auch bei der Verlegung der Gesellschaft ins Ausland und bei der Löschung schweizerischer Gesellschaften im Handelsregister2101 vorgesehenen Verweisung auf Art. 46 FusG nicht gerecht. Um den bezweckten Gläubigerschutz zu erreichen, müssen Schuldenruf und Sicherstellung vor dem Vollzug der Transaktion durch den Handelsregistereintrag erfolgen, also bevor das Haftungssubstrat an die übernehmende Gesellschaft im Ausland übergeht.2102 Ein solches Ergebnis wird nur dann erzielt, wenn der Verweis von Art. 163b Abs. 3 IPRG2103 den ganzen Mechanismus des Gläubigerschutzes bei der Binnenspaltung umfasst. Somit darf der Fusionsbeschluss erst gefasst und ins Handelsregister eingetragen werden, wenn das Verfahren zur Sicherstellung der Forderungen abgeschlossen ist.

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Die Löschung der übertragenden schweizerischen Gesellschaft aus dem Handelsregister kann erst erfolgen, wenn ein zugelassener Revisionsexperte bestätigt, dass die Sicherstellung der Forderungen gemäss Art. 46 FusG erfolgt ist, die Forderungen erfüllt worden oder die Gläubiger mit der Löschung einverstanden sind (Art. 164 Abs. 1 IPRG).2104

2.3 Arbeitnehmer
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Für die Arbeitnehmer gilt zunächst einmal derselbe Schutz wie für die übrigen Gläubiger. Überdies sind aufgrund des Verweises in Art. 163b Abs. 2 IPRG für die übertragende schweizerische Gesellschaft auch die besonderen Arbeit­neh­merschutzbestimmungen des Fusionsgesetzes anwendbar. Folglich sind Art. 27 Abs. 2 FusG betreffend Sicherstellung der Forderungen, Art. 27 Abs. 3 FusG betreffend Fortbestehen einer persönlichen Gesellschafterhaftung sowie Art. 28 FusG betreffend Konsultation zu berücksichtigen. Entgegen dem Wortlaut der Botschaft2105 erscheint es jedoch fraglich, ob sich der Verweis auch auf Art. 27 Abs. 1 FusG bezieht, der für den automatischen Übergang der Arbeitsverhältnisse an die übernehmende Gesellschaft auf Art. 333 OR verweist. Art. 163b Abs. 2 IPRG verweist nämlich nur auf die schweizerischen Normen, die auf die übertragende schweizerische Gesellschaft anzuwenden sind. Abgesehen davon stellt sich die Frage, inwiefern das schweizerische Recht auch auf den Schutz der im Ausland beschäftigten Arbeitnehmer der übernehmenden ausländischen Gesellschaft einwirken soll oder ob diesbezügliche Fragen nicht ohnehin dem Statut des Arbeitsvertrags zu unterstellen wären. Nach der herrschenden Lehre ist Art. 333 OR kraft Verweises in Art. 27 Abs. 1 FusG nur auf diejenigen Arbeitsverhältnisse anwendbar, welche bereits unmittelbar vor der Fusion schweizerischem Recht unterstanden. Für Arbeitsverhältnisse, welche bereits vor der Fusion einem ausländischen Statut unterstanden, ist hingegen von der Anwendbarkeit der entsprechenden ausländischen Regelung bei Betriebsübernahmen auszugehen.2106

1106

Art. 28 Abs. 4 FusG bestimmt ausdrücklich, dass die Regeln zur Konsultation der Arbeitnehmervertretung von Art. 28 FusG auch auf übernehmende ausländische Gesellschaften anzuwenden sind. Es handelt sich bei dieser Norm somit um eine zwingend anzuwendende Bestimmung schweizerischen Rechts gemäss Art. 18 IPRG.2107